Überschlägig sind 875 Tage nur etwas mehr als zwei Jahre! Tatsächlich keine lange Zeit, gemessen am „stattlich-stadtlichen“ Alter von Lübeck, das in diesem Jahr sein 875-jähriges Jubiläum feiert.
Erste Gedanken, die in meinem Kopf kreisen, erweitern sich schnell zu einer größeren virtuellen Galerie – mit gemalten und fotografierten Bildern dieser mich enorm beeindruckenden Hansestadt. Irgendwie bin ich amüsiert und zugleich ein wenig irritiert, dann aber auch ernsthaft hinterfragend, mit gewissen Unsicherheiten zum Warum, Was und zum Wie!
Ich bin nämlich gebeten worden, zum Jubiläum etwas über Lübeck zu schreiben: meine Beziehung zu dieser großen Stadt, gern auch Persönliches, die Liebe zu ihr, meine Bewunderung, vermutet auch Auszüge aus meinem Alltag, eventuell ein außergewöhnliches Erlebnis und, wenn es sich anbietet, einen Exkurs ins Genussvolle bzw. Kulinarische oder meinen Beitrag zum „Hierher-Gehören“.
Ausgerechnet ich, denn ich bin erst seit Februar 2016 einwohneramtlich gemeldeter Lübecker. Seitdem sind für mich wirklich nur knapp 875 Tage im neuen Wohnort vergangen! Es kommt mir daher zunächst eher merkwürdig vor, als Stadtneuling einen Beitrag zum festlichen Jahr dieser sich schmückenden traditionsreichen „Hansediva“ zu schreiben. Denn was sind meine 875 Tage, gemessen an 875 Jahren? Welche Bedeutung hat ein normales Einzelschicksal, gemessen an dem, was sich in 875 Jahren in Lübeck ereignet hat – mit all den kleinen und großen Taten berühmter Persönlichkeiten, all den freudigen Ereignissen, aber auch all den Tagen und Jahren voller Leid.
Es macht für mich ad hoc keinen Sinn, mich in die Tiefen geschichtlicher Daten „hineinzugoogeln“. Für mich gibt es in Wirklichkeit keine Geschichte von Lübeck. Diese Stadt ist die Geschichte! Ich kann mich spontan allerdings an den großen Schreck erinnern, als ich mit meiner Familie erstmals vor den im Zweiten Weltkrieg zerborstenen Glocken am Mahnmal des Süderturms der Marienkirche stand! Sehr präsent sind daneben für mich besonders die glückseligen Begegnungen unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung auf dem Lübecker Rathausmarkt.
Ja, ich würde mich mit gewisser Vorsicht „Einheimischer“ nennen. Nochmals ja: Ich fühle mich als Lübecker Bürger, stolz und gleichzeitig voller Ehrfurcht. Angenehm klein sogar, beispielsweise beim Besuch des würdevoll und sorgfältig gestalteten Hansemuseums, beim beschauenden Bummeln durch die wundervollen Straßen und die Gänge der Altstadt, beim Riechen der jahrhundertealten Düfte, beim Sitzen im kühlenden Schatten einer der hochgereckten prächtigen Kirchen, beim Hören des vermutlich von Anbeginn immer gleichen Stimmengewirrs im traditionsbeladenen Restaurant der Schiffergesellschaft: alles durch und durch hanseatisch – eigentlich selbsterklärend!
Was passiert in mir und mit mir, wenn die Jubiläumsglocken der Lübecker Kirchen gleichzeitig und durchaus harmonisch um die Gunst der Ohren buhlen, dabei fast nebensächlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bis zur völligen Selbstverständlichkeit mischen? Unzählbare unvergessliche Ereignisse haben sich in Lübeck 875 Jahre lang aufaddiert, sind bis heute mit allen Sinnen für jede und jeden, sich darauf einlassend, verblüffend direkt und sich stetig wiederholend spürbar. Lübeck ist schon dadurch für mich eine der weltweit bedeutenden Speicherstädte – nicht so sehr der im- oder exportierten Waren, sondern viel mehr der einmalig starken und an „jeder Ecke“ gespeicherten Sinneseindrücke wegen. Dazu gehören natürlich und besonders auch die gestaltenden Beiträge bzw. „weltkulturellen Geschichtspfeiler“ vieler großer Persönlichkeiten, die untrennbar mit dem Namen der Stadt verbunden sind und prägend zum menschlichen Speichermosaik beitragen, sei es im Handel, in der Kultur, in der Politik und im gesellschaftlichen Sein – seit nunmehr 875 Jahren!
Allein deswegen könnte oder würde ich mich selbst niemals „Hanseat“ nennen, sondern mich als Bewunderer des Hanseatischen sehen und damit vermutlich genau das teilen und erleben, was letztlich auch Millionen von Touristen ins „lübsche“ Schwärmen bringt.
Seit 1974 bin ich Schleswig-Holsteiner: Meine Frau und ich sind von Braunschweig nach Eutin umgezogen. Dort haben wir unsere Berufe ausgeübt, vier Kinder großgezogen, unseren Freundeskreis gehabt, Sport getrieben und sind unseren Hobbys nachgegangen. In der gemeinsamen Freizeit war Lübeck allerdings von Anbeginn der Mittelpunkt unserer kulturellen Ansprüche, sowohl qualitativ als auch quantitativ, mit gut zu erreichenden Konzertsälen, Museen, Theatern, Märkten, Geschäften, Kinos und Cafés. Im Grunde kannten wir schon nach wenigen Jahren fast jeden Meter der Autofahrten zu jeder Jahreszeit – vorbei am Süseler Baum, über die Autobahn A1, den Lübecker Lindenteller oder auch die langgezogene Travemünder Allee.
Als meine Frau und wir als Familie im Jahr 2008 die schreckliche Prognose akzeptieren mussten, dass eine unheilbare Krankheit meiner Frau nur noch eine begrenzte Lebenszeit zulässt, war es besonders die Musik dieser Stadt, die uns viel Kraft gespendet hat. Auch nach ihrem Tod zu Beginn des Jahres 2010 habe ich die Fahrten ins Lübecker Kulturleben fortgesetzt – gerade so, als ob sich nichts verändert hätte. Einer ihrer letzten Wünsche an mich war gewesen, dass ich „der Musik etwas zurückgeben möge“. Dieses Vermächtnis war wohl eher aus Sorge um mich entstanden. Es ging ihr um das Danach: „denn es ist nur für den schwer, der übrig bleibt“, sagte sie, was ich jedoch erst viel später in seiner Bedeutung verstanden habe. Aber Lübeck mit seinen Möglichkeiten hat mir geholfen, diese schwere Lebensphase optimistisch zu bewältigen – mehr als es mein damaliger Wohnort mit den ehemaligen Freunden und Arbeitskollegen vermochte, weil Eutin nach dem großen Verlust mehr für Vergangenes, für nicht Wiederholbares und schon gar nicht mehr für Zukünftiges stand.
Aus dem Wunsch „etwas zurückzugeben“ sind letztlich in Lübeck zwei Musikprojekte entstanden. Seit 2012 habe ich das Glück, mit dem Projekt „MusikERkennen“ sogar selbst etwas zum Kulturleben der Stadt beitragen zu dürfen. Das machte mir viele Lübecker (Spiel-)Orte und beteiligte Menschen zu engen Vertrauten – in unvorstellbar kurzer Zeit. Es gab etliche Wochen, in denen ich an fünf oder sechs Tagen zu Treffen und Konzerten in Lübeck war. Zusammen mit einem ebenfalls ehrenamtlich tätigen Team, mit der Förderergesellschaft und der Musikhochschule Lübeck, mit ihrer damaligen Präsidentin Inge-Susann Römhild, ist für alle Beteiligten eine reizvolle, erfolgreiche Kooperation entstanden, mit hohem Wert für die Musikstudierenden, deren Zuhörer/-innen und die engagierten Veranstalter.
Aus MusikERkennen erwächst derzeit zusätzlich „musicaetcetera“, als Projekt mit der „Musik und den übrigen Dingen“, in dem herausragende Musiktalente gemeinsam mit Persönlichkeiten aus Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft interdisziplinäre Themen präsentieren, um zum Beispiel wichtige Forschungsergebnisse und weitreichende Erkenntnisse unterschiedlicher Fachbereiche in „musikalischen Rezepturen“ neben korrekter Sachlichkeit auch emotional zu vermitteln.
Ende 2015 habe ich schließlich mein Haus in Eutin verkauft, alles wurde mir zu groß und auch zu fremd. Mit unvorstellbarem Glück habe ich in Lübeck sofort eine neue Bleibe gefunden, die ich schnell als mein neues Zuhause empfinden durfte. Bin ich deswegen in Lübeck schon ein „Einheimischer“ oder immer noch ein „Zugereister“? Beide Musikprojekte haben mir definitiv bei meiner „Eingemeindung“ geholfen, sicher erleichtert durch eigenen persönlichen Einsatz. Es war recht lebensbejahend und stärkend, schnell neue Freundschaften zu knüpfen, mit Einheimischen und Zugereisten, mit gleichaltrigen und jüngeren Menschen verschiedenster Berufe und Berufungen, die mir viel über die wechselvolle Geschichte dieser unvergleichlichen Stadt und auch über ihre eigenen Lebenswege erzählt haben. Und an jedem Tag werden neue Geschichten geschrieben!
Auch wenn ich die Vielfältigkeiten von Lübeck – mit all ihren Verzahnungen von Architektur, Parks, und Wasserwegen – über alle Maßen bewundere und schätze, sind es die Menschen, die mir Lübeck in so kurzer Zeit vertraut gemacht haben und dieses weiterhin ermöglichen.
Darf ich Lübeck deswegen schon nach 875 Tagen als „Heimat“ bezeichnen? Ist Heimat dort, wo ich mich wohlfühle, wo es Menschen gibt, die ich mag und die mich mögen? Steht „Heimat“ für Geborgenheit, für Versorgtsein oder für Zugehörigkeit? Das mag und kann vermutlich jede oder jeder Befragte nur für sich selbst beantworten.
Das Gefühl, nach Lübeck ohne Umwege zurückkehren zu wollen, verstärkt sich zunehmend mit jedem Fernsein. Mit jetzt knapp 74 Lebensjahren habe ich mich also für Lübeck entschieden, meine besondere neue „Lebensabschnittsgefährtin“. Ich hatte es relativ leicht damit; denn ich koppele mein Ja zur neuen Heimat an das Bewusstsein, hier den vermutlich letzten Abschnitt meines Lebens zu beginnen.
„Ich liebe diese Stadt“, kann ich ohne jede Schüchternheit und Vorbehalte sagen. Meine Entscheidung hat tatsächlich weniger mit dem Verstand zu tun als vielmehr mit dem Herzen!
Meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mischen sich nun in solch kleinen Schnittmengen, wie zum Beispiel 875 Tage, die sich hoffentlich noch oft vervielfältigen, in die Zukunft der Stadt – mit großer Vorfreude auf jeden neuen Tag im 875sten und allen uns noch vergönnten Folgejahren.
Alles Gute für dich, mit einem herzlichen Dankeschön, du ehrwürdige, jung gebliebene hanseatische Dame!
Peter Wilckens
musicaetcetera gUG
Lübeck, Ostermontag 2018
P. S.: … und jetzt radle ich mit dem Fahrrad zum Rathausmarkt, atme dort ganz tief ein und halte in einem der historischen Cafés die Zeit an ...